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Re: Anmerkungen
Autor:Julian von Heyl
Datum: Fr, 31.08.2007, 16:38
Antwort auf: Anmerkungen (PaulW)

> Hm ... Woher weißt Du das denn? Schließt denn die
> Schriftstellerei Kenntnisse der RS automatisch aus?

Das habe ich nicht behauptet.

> Aber schließt es auch nicht aus!

Das habe ich nicht bestritten.

Zum Thema "Kompetenz" sei speziell auf Reich-Ranicki bezogen auf einen älteren SPIEGEL-Artikel verwiesen, in dem er sich aus meiner Sicht bis auf die Knochen blamiert hat. Interessant der Kommentar hierzu von Wilfried Kürschner im "Rechtschreibtagebuch" von Ickler:

Nach meiner festen Auffassung erzeugt sich die Presse dieses Bild selbst, indem Journalisten, Kommentatoren und als Experten ausgegebene vermeintliche Autoritäten oder Koryphäen Fehlmeldung über Fehlmeldung verbreiten, und zwar auch und vor allem auf der Sachebene, der schlichten Ebene der tatsächlich vorgesehenen Schreibungen. Ein Beispiel, das diese Annahme belegt, ist ein Artikel, der am 2. August 2004 im Spiegel erschien und die Überschrift „Unzweifelhaft eine Katastrophe“ trug. Sein Autor: der große Marcel Reich-Ranicki. Zur Untermauerung seines Katastrophen-Kassandraruf führt er ganze sieben (7!) Beispiele an.

Reich-Ranicki wiederholt die schier unausrottbare Behauptung, das Wort „wohlverdient“, das er als erstes Beispiel vorstellt, müsse nach der Reform getrennt geschrieben werden: „ein wohl verdienter Preis“, was doppeldeutig sei und auch im Sinne von „vermutlich verdienter Preis“ gelesen werden könne. Die Wahrheit ist: Keines der ernst zu nehmenden Wörterbücher (Duden und Bertelsmann, jetzt als „Wahrig“ firmierend) hat diese Schreibung je vorgesehen. Die Getrenntschreibung wäre nach der Reformregel ja auch nur dann geboten gewesen, wenn „wohl“ in „wohlverdient“ im Sinne von „gut“ zu verstehen und damit steigerungsfähig wäre, wenn es also auch „besser verdient, am besten verdient“ oder „sehr, ganz wohlverdient“ gäbe. Da dies nicht der Fall ist, ist allein die Zusammenschreibung zulässig.

Demselben Mythos sitzt Reich-Ranicki auf, wenn er eine Wendung wie „das bei weitem nichts sagendste“ als angebliche Reformschreibung aufführt. Selbstverständlich ist und war sie unzulässig, und zwar aufgrund der Regel, dass Wortverbindungen, bei denen einer der Bestandteile in dieser Form nicht selbstständig vorkommt, in Reich-Ranickis Beispiel also der Bestandteil „sagendste“, zusammenzuschreiben sind (§ 36.2 des amtlichen Regelbuchs): „das Nichtssagendste“.

Auch was die übrigen angeführten Schreibungen „frisch gebackene Ehe“, „Zeit raubend“, „tief schürfend“ angeht, hat sich Reich-Ranicki nicht hinreichend kundig gemacht. In der Anfang Juni 2004 von der Kultusministerkonferenz auf Vorschlag der Rechtschreibkommission beschlossenen Revision sind sie nämlich alle auch (wieder) als Zusammenschreibungen zulässig (§ 36 E2.2).

Schließlich zu Reich-Ranickis Beispiel „leidtun“. Auch hier hat die Revision die Kritik aufgenommen und lässt die Klein-/Zusammenschreibung („tust ... leid“ parallel zu „leidtun“) zusätzlich zur Groß-/Getrenntschreibung („tust ... Leid“ parallel zu „Leid tun“) zu – aber nicht die alte Schreibung „leid tun“ (klein und getrennt), die Reich-Ranicki offenbar meint, die er aber nicht mehr richtig in Erinnerung hat. Der leicht zu merkende Grundsatz der Neuregelung ist hier: Im Fall von Varianten entweder groß und getrennt („Leid tun“, „auf Seiten“) oder klein und zusammen („leidtun“, „aufseiten“), aber nicht mehr klein und getrennt (die früheren Schreibungen „leid tun“, „auf seiten“).

Unter allen von Reich-Ranicki angeführten kritischen Punkten ist allein seiner Kritik an der nunmehr möglichen (aber nicht gebotenen!) Trennung „Demok-ratie“ eine gewisse Berechtigung nicht abzusprechen. Wie er allerdings darauf kommt, den zweiten Bestandteil, „ratie“, mit „Ration“ gleichzusetzen („Es geht doch nicht um die Ration aus der Volksküche ...“) bleibt unerfindlich. Hatte er vielleicht eines der auch sonst gern als Gruseltrennungen herangezogenen Beispiele „Demonst-ration“ oder „Frust-ration“ im Sinn? Deren Trennung folgt aber doch denselben Regeln wie die in „Most-rich“, „gest-rig“, „dreifenst-rig“ und dergleichen, die nichts Gruseliges an sich haben. „Demo-kratie“ jedenfalls soll nach dem Duden als Zusammensetzung an der Fuge getrennt werden.

Alle sieben aufgeführten Fälle sind nicht geeignet, Reich-Ranicki, wenn schon nicht als Orthografie-Experten, so doch als Kommentator, der sich redlich kundig gemacht hat, auszuweisen. Doch das Lesepublikum des Spiegel hat wenig Anlass, ihm zu misstrauen, weniger vielleicht noch als der „Bildzeitungs“-Leser, der von seiner Zeitung genau so hinters Licht geführt wird, diese Möglichkeit aber von vornherein immer einkalkuliert.

Wenn stimmt, was das Boulevardblatt Berliner Zeitung am 6. September 2004 aus einem Interview mit Reich-Ranicki abdruckt, ist der Spiegel-Leser endgültig der Düpierte: Auf die Frage „Zurzeit [!] wird die Rücknahme der Rechtschreibreform diskutiert. Haben Sie die neuen Regeln je benutzt?“ antwortet er: „Nein, nie“ – das sei ihm unbenommen. Aufschlussreich hingegen ist die Antwort auf die Frage „Beherrschen Sie die neuen Regeln überhaupt?“: „Nein! Das muss [!] ich auch gar nicht.“ Nun verstehen wir, wie Artikel wie der besprochene in die Zeitung gelangen. Kein Redakteur hat ihn kritisch gegengelesen. Es ist ja Kampfzeit, in der der kluge Kopf hinter der Frankfurter Allgemeinen und der mehr wissende Spiegel-Leser den Bild-Aufkleber „Stoppt die Schlechtschreibreform“ stolz, aber ahnungslos auf der Bekennerstirn tragen sollen. Oft genügt ein Blick in den Duden, um ihn wieder abzunehmen.
http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=488#5277

Und solche Patzer sind meiner Beobachtung nach bei Reformkritikern, die sich zumeist nur sehr oberflächlich, wenn überhaupt, mit den Inhalten und der Entwicklung der Reform beschäftigen, keine Ausnahme, sondern die Regel. Auch hier in diesem Forum.

Grüße
Julian

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