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Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch

adelung.jpgAm Ende des 18. Jahrhunderts verfasste JOHANN CHRISTOPH ADELUNG (1732 – 1806) ein Regelbuch zur deutschen Rechtschreibung, das die gleiche Rolle spielte wie später der Duden. So schrieb SCHILLER im Jahre 1804 an GOETHE: "Den Adelung erbitte ich mir, wenn Sie ihn nicht mehr brauchen; ich habe allerlei Fragen an dieses Orakel zu tun." Und noch 1826 bemerkte HEINRICH HEINE hierzu: "Wir haben uns den Adelung aufgesackt." Doch auch das erste Großwörterbuch der deutschen Sprache mit einem Umfang von rund 60.000 Artikeln wurde von ADELUNG verfasst. Es beschreibt die Herkunft, Bedeutung und Verwendung des deutschen Wortschatzes in der Mitte und zum Ende des 18. Jahrhunderts in einzigartiger Weise und zählt daher zweifelsohne zu einem der legendärsten Nachschlagewerke.

Die in den Jahren 1793 bis 1801 im Leipziger Verlag Breitkopf & Co. erschienene 2. Auflage ist in der Zwischenzeit in elektronischer Form zugänglich. Die CD-ROM enthält den vollständigen Text des "Grammatisch-kritischen Wörterbuchs der hochdeutschen Mundart" als elektronischen Neusatz und im Faksimile des Originaldrucks.

Ein Inhaltsbaum mit neun Ebenen, frei skalierbare Fenster und vier Darstellungsmodi ermöglichen ein optimales Lesen und Orientieren in den einzelnen Artikeln. Wie in allen bislang erschienenen Titeln aus der Reihe "Digitale Bibliothek" üblich, kann auch in der elektronischen Ausgabe des Adelung'schen Wörterbuches eine einfache Volltextsuche zur Abfrage von Stichwörtern und eine komplexe Suche mit Platzhaltern erfolgen. Es versteht sich von selbst, dass gerade dieser Vorzug gegenüber dem gedruckten Werk von unschätzbarem Wert ist. Auch das Markieren und Kommentieren sowie das Drucken und Exportieren von Textteilen stellen eine wertvolle Hilfe bei der Arbeit mit dem Wörterbuch dar.

Die Volltextausgabe auf CD-ROM ist natürlich in erster Linie für Sprachwissenschaftler und Geschichtsforscher interessant, doch es macht auch Spaß, ziellos in dem Werk zu blättern und sich mit längst vergessenen Wörtern und Ausdrücken durch eine längst vergessene Welt treiben zu lassen. Eine "Dreygerte" etwa, lässt man sich belehren, ist "in Thüringen ein Acker, welcher drey Gerten oder Ruthen breit ist, er mag übrigens so lang seyn als er will". Ein "Schlichtbier" ist nicht etwa eine Versöhnungsgeste zum Schlichten eines Streites und auch nicht das damalige Gegenstück zum heutigen Premium-Pils, sondern "bey den Kleibern einiger Gegenden, eine Ergetzlichkeit an Biere, welche sie fordern und bekommen, wenn sie eine gekleibte Wand schlichten, das ist, glatt streichen". Wofür man natürlich wieder wissen muss, was "Kleiber" sind: "eine Person, welche kleibet; besonders in der zweyten Bedeutung des Activi, wo Kleiber und Kleiberinnen diejenigen Personen sind, welche die hölzernen Wände mit Lehm ausfüllen, oder solche kleiben. In einigen Gegenden werden sie Leimklicker oder vielmehr Lehmklicker genannt." Kleber also.

Von dem Wörtchen "geil", welches ja in aufdringlichen Werbespots derzeit fröhliche Urständ feiert, erfahren wir, dass es unter anderem "fett" heißt, "von dem Fleische der Thiere; in welchem Verstande es nur noch im gemeinen Leben von einem ekelhaften, widrigen Geschmacke und Geruche des Fettes üblich ist. Das Fleisch, das Fett schmeckt zu geil." Eine ursprüngliche Bedeutung, auf die übrigens der sich permanent erneuernde Jugendkult, ohne es zu wissen, mit der Floskel "fett" im Sinne von "klasse, großartig" Bezug nimmt. Was ja davor "geil" hieß. Unter den weiteren Bedeutungen des Wortes notierte der sittsame Adelung verschämt: "Reitzungen zum unrechtmäßigen Beyschlafe suchend und unterhaltend; ein harter Ausdruck, der so widrig ist als die Sache selbst, daher man ihn auch nur gebraucht, wenn man von dieser Gemüthsverfassung mit Nachdruck zu reden genöthiget ist."

Dass Adelung sich selbst überhaupt genötigt fühlte, solche Wörter in sein "Wörterbuch der hochdeutschen Mundart" aufzunehmen, erklärt er in seiner Vorrede: "Manche provinzielle oder unrichtig gebildete Wörter kommen bey sonst guten Schriftstellern vor, und konnten daher nicht übergangen werden, wäre es auch nur, ihre Mängel zu zeigen. Eine große Menge sonst niedriger Wörter ist für die niedrig komische Schreibart brauchbar, und hatte also ein gegründetes Recht gleichfalls aufgeführet zu werden."

Aus heutiger Sicht stellt der Adelung natürlich längst nicht mehr einfach nur ein Wörterbuch dar, sondern kann mit seinen teils sehr blumigen Beschreibungstexten als schillerndes Panoptikum der Sprach-, Kultur- und Sittengeschichte seiner Zeit betrachtet werden.

Autoren: Julian von Heyl / Christian Stang

Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart
1793 / 2000, Directmedia (Digitale Bibliothek 40)
CD-ROM, Windows

Julian von Heyl am 01.02.04
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