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Duden, Band 9: Das Wörterbuch der sprachlichen Zweifelsfälle (2016)

duden9.jpgWelche drei Bände aus der Dudenreihe sind für die tägliche Textarbeit unverzichtbar? Hier sind sicher zunächst Band 1 und Band 5 zu nennen, also der Rechtschreibduden und das Fremdwörterbuch, die gemeinsam praktisch den kompletten Wortschatz der deutschen Sprache abdecken. Abschließen sollte man die Trilogie aber unbedingt mit dem »Wörterbuch der sprachlichen Zweifelsfälle«, welches mittlerweile in der 8. Auflage vorliegt. Es hilft zuverlässig dort weiter, wo die erstgenannten Wörterbücher an ihre systemischen Grenzen stoßen – nämlich wenn es darum geht, was als »richtiges und gutes Deutsch« (Untertitel) anzusehen ist.

Erstmals erschien »der grüne Duden« im Jahr 1965 unter dem Titel »Hauptschwierigkeiten der deutschen Sprache«. Schon damals folgte die Dudenredaktion dem auch heute noch beibehaltenen Konzept, einen praktischen Ratgeber für Vielschreiber bereitzustellen, die sich nicht lange mit theoretischen Grundlagen aufhalten möchten, sondern direkt umsetzbare Tipps und Empfehlungen suchen. Hierzu griff man auf die häufigsten telefonischen und brieflichen Fragen und Antworten aus der Duden-Sprachberatung zu Orthografie, Grammatik und Stil zurück, was den nunmehr seit über 50 Jahren erscheinenden Ratgeber zu einem frühen Vertreter des heute so beliebten Konzepts der »frequently asked questions« (FAQ) macht.

Weniger Konsistenz bewies man beim Titel, der bereits 1972 geändert wurde in »Zweifelsfälle der deutschen Sprache – Wörterbuch der sprachlichen Hauptschwierigkeiten«, bevor das Werk 1985 seinen für viele Jahrzehnte gültigen Namen »Richtiges und gutes Deutsch – Wörterbuch der sprachlichen Zweifelsfälle« erhielt. Dass man in der neuen Auflage Titel und Untertitel vertauscht hat, lässt sich zum einen als Schritt zurück zu den Wurzeln interpretieren, zum anderen spiegelt sich darin die zunehmende Tendenz der Dudenredaktion wider, den Sprachgebrauch eher deskriptiv zu begleiten als ihn normativ zu regeln. Dazu passt, dass absolute Urteile, was richtig oder was falsch ist, vermieden werden – stattdessen richten sich die Empfehlungen vorwiegend nach der Häufigkeit im Sprachgebrauch. Exemplarisch sieht man dies etwa an der Partizip-II-Form gewunken (neben gewinkt) zu winken: In der 3. Auflage galt diese Form noch als »landschaftlich«, später als umgangssprachlich; mittlerweile stuft der Duden beide Formen als standardsprachlich ein.

Interessant in diesem Zusammenhang ist die Verwendung sogenannter Frequenzausdrücke wie »vereinzelt« oder »meist«, denen in den Benutzungshinweisen prozentuale Angaben zur Häufigkeit zugeordnet sind (siehe Abbildung).

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Frequenzausdrücke beschreiben die Häufigkeit sprachlicher Varianten.

Die Artikel sind überwiegend kurz und beziehen sich auf konkrete Zweifelsfälle: Ist von Salz befreites Wasser entsalzenes oder entsalztes Wasser? Was ist der Unterschied zwischen eindeutig und unzweideutig? Stellt man etwas in Frage oder infrage?* Oft geht es hierbei um die empfohlenen Schreibweisen bei Varianten nach neuer Rechtschreibung, aber auch stilistische oder grammatische Empfehlungen werden gegeben. Hervorzuheben ist der unmittelbare Nutzen: Auf eine theoretische Vertiefung oder Problematisierung wird bewusst verzichtet zugunsten von Ratschlägen, Tipps oder Empfehlungen, die der Schreibende sofort umsetzen kann.

Flankiert werden diese kurzen, jeweils auf einen konkreten Fall bezogenen Beiträge von insgesamt 91 sogenannten Überblicksartikeln, die eine vertiefte Auseinandersetzung mit einem bestimmten Themengebiet bieten, etwa zum schwierigen Thema »Kongruenz«. Leicht amüsiert registriert man hier die behutsame Modernisierung der Beispiele – aus »Frau Müller mit ihrer Tochter kam / kamen auch« wurde »Udo Lindenberg nebst Band kam / kamen auch« –, eher verschlimmbessert wurde hingegen, dass in den Überblicksartikeln die visuell eindeutigen gelben Empfehlungsmarkierungen weggefallen sind (im Beispiel für den Singular »kam«). Die Empfehlungen erschließen sich zwar implizit aus dem Text und den schon erwähnten Frequenzausdrücken (»meist«), ein schneller Aha-Effekt beim Überfliegen des Artikels bleibt einem aber so versagt.

Besonders interessant wird es dort, wo der Duden auf aktuelle Sprachdiskurse eingeht, wie etwa im Artikel zur »Political Correctness«, der sehr treffend die Ambivalenz dieses Begriffs thematisiert: »Einerseits bezeichnet er das Konzept und den Versuch, Minderheiten sprachlich nicht zu diskriminieren, auf der anderen Seite steht er für die (teils ironisierende) Kritik an dieser Form der ›Sprachpolitik‹.« Komplett überarbeitet wurden die Ausführungen zum »geschlechtergerechten Sprachgebrauch«: Erfreulich wertfrei und gelassen beschreibt der Duden die verbreiteten Formen des Genderns wie Schrägstrich, Doppelnennung, Binnen-I und Gender-Gap und zeigt die damit verbundenen grammatischen Implikationen und Schwierigkeiten auf, um dann zu einem fast schon versöhnlichen Fazit zu kommen: »Eine offizielle Empfehlung kann die Dudenredaktion hierfür nicht abgeben; wer sich jedoch nicht im amtlichen Kontext bewegt, kann mit diesen kreativen Lösungen durchaus etwas anfangen.«

Es mag schon deutlich geworden sein: Für jemanden, der oft und viel Texte schreibt, ist der Duden 9 eigentlich unverzichtbar. Ob man hierbei zur Buchform oder zur elektronischen Ausgabe greift, bleibt den persönlichen Vorlieben überlassen. Das Buch ist insbesondere für die längeren Überblicksartikel sicher das angenehmere Medium und erfreut so nebenbei auch mit einer sehr hochwertigen, vorzüglichen Gestaltung, während die in das Programm »Duden-Bibliothek« integrierbare Software-Variante ihre Vorzüge beim schnellen Nachschlagen entfaltet. Da der Buchkauf aber zum Download der Software für nur 1 Euro berechtigt, dürfte die Entscheidung nicht schwerfallen, sich einfach beides zuzulegen.

Lohnt sich ein Update gegenüber der 7. Auflage? Bei genauerem Blick zeigt sich, dass doch in vielen Bereichen ergänzt, nachgebessert und präzisiert wurde, weshalb der Neukauf zu empfehlen ist. Er drängt sich für diejenigen, die mit der Ausgabe von 2011 zufrieden sind, aber auch nicht zwingend auf.

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* korrekt: entsalztes Wasser; Empfehlung: infrage; eindeutig bedeutet »klar, unmissverständlich«; unzweideutig »setzt die Möglichkeit einer anderen Deutung voraus, verneint sie aber ausdrücklich«.

DUDEN, Band 9:
Das Wörterbuch der sprachlichen Zweifelsfälle
2016, 8. Auflage, Dudenverlag
Buch / Download

Julian von Heyl am 14.06.17
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Kommentare

1  Jürgen Hahnemann

Dass die Überblicksartikel keine Dudenempfehlungen mehr enthalten, finde ich keine leichte, sondern eine heftige Verschlimmbesserung. Den Wegfall begründet die Dudenredaktion damit, dass „es in diesen Artikeln vor allem darum geht, die Hintergründe für Zweifelsfälle zu erklären“ (innere Umschlagseite vorne, rechte Seite). Im Hinblick auf Schreiber/innen, die sich vergewissern wollen, ob eine bestimmte Schreib- oder Ausdrucksweise korrekt ist, mag dies zwar sinnvoll erscheinen, aber Lektor/inn/en und Korrektor/inn/en nutzen den grünen Duden, um einen konsistenten Sprachgebrauch durchzuhalten. Bisher wusste man dank der gelben Hinterlegungen oft schon auf einen Blick Bescheid, jetzt muss man den ganzen Artikel lesen, um den entsprechenden Hinweis im Artikel zu finden.

Die Abkehr vom Anspruch, trotz Varianten einen einheitlichen Sprachgebrauch zu ermöglichen, zeigt sich auch an anderer Stelle. Im Überblicksartikel „Adjektiv“ zum Beispiel wird unter anderem die Frage der Deklination bei mehreren aufeinander folgenden Adjektiven diskutiert. In der Vorgängerauflage ist noch zu lesen: „Als Grundregel gilt hier: Bildet das zweite Adjektiv mit dem Substantiv eine Bedeutungseinheit, die als Ganzes vom ersten Adjektiv modifiziert wird, dann tritt Wechselflexion ein“ (S. 41 in der 7. Auflage). In der Neuauflage wurde der letzte Teilsatz geändert zu „… dann kann Wechselflexion eintreten“ (S. 29 in der 8. Auflage).

Dabei geht es um Fälle wie „nach heftigem parlamentarischen Streit“. Hier bringt die Wechselflexion (= starke Endung -m beim ersten Adjektiv, schwache Endung -n beim zweiten) zum Ausdruck, dass der Streit nicht etwa heftig und parlamentarisch ist, sondern dass der parlamentarische Streit heftig ist. Diese Differenzierung wird durch den Zusatz von „kann“ der Beliebigkeit anheimgestellt, und zwar nur deshalb, weil eine Vielzahl von Schreiber/inne/n sie nicht mehr beherrscht. Mehr noch: Wer solche Feinheiten in der Ausdrucksweise nicht kennt, hat Mühe, sie nach der Umformulierung des Artikels überhaupt nachzuvollziehen.

So dokumentiert die Neuauflage des grünen Dudens nicht nur Tendenzen im Sprachgebrauch, sondern leistet diesen auch Vorschub – was gerade in diesem Fall tragisch ist, weil mittlerweile auch viele Professionals die aufgezeigte Differenzierung nicht mehr beherrschen. Wenn ein „Wörterbuch der sprachlichen Zweifelsfälle“ aber den Anspruch aufweicht, durch den Dschungel des real existierenden Sprachgebrauchs hindurch einen möglichen Weg zur Einheitlichkeit zu weisen, ist es irgendwann für den professionellen Gebrauch nicht mehr geeignet.

Geschrieben von Jürgen Hahnemann am 04.08.17 23:50

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