Wohl jeder kennt die berühmten gelben Büchlein des Reclam-Verlags, die einen preiswerten Zugang zu Klassikern der Weltliteratur ermöglichen. Was die Rechtschreibung angeht, hat der Verlag nun angekündigt, den Empfehlungen der Schweizer Orthographischen Konferenz (SOK) zu folgen, was sich als deutliche Kritik an Stand und Umsetzung der Rechtschreibreform hierzulande verstehen lässt.
Die Schweizer Orthographische Konferenz, kurz SOK, wurde 2006 von Vertretern aus Presse, Medien, Politik und Wissenschaft gegründet. Am 31. Oktober 2007 stellte sie ihre abschließenden Empfehlungen zur Rechtschreibung vor, denen heute unter anderem die Schweizerische Depeschenagentur (sda) folgt.
Im Unterschied zu den Empfehlungen der Arbeitsgemeinschaft der deutschsprachigen Nachrichtenagenturen, die sich stets auf der Grundlage des 2006 herausgegebenen amtlichen Regelwerks zur deutschen Rechtschreibung bewegen und im Wesentlichen eine Vereinheitlichung der teils widersprüchlichen Empfehlungen von Duden und Wahrig darstellen, empfiehlt die SOK in vielen Fällen klassische Schreibweisen auch dort, wo diese von der Rechtschreibreform explizit abgeschafft wurden.
Der erste und wichtigste Grundsatz der SOK-Empfehlungen lautet: Bei Varianten ist die herkömmliche Schreibweise zu wählen – und dies im Gegensatz zu den Empfehlungen der deutschsprachigen Nachrichtenagenturen auch dort, wo Duden und Wahrig einhellig die neue Schreibweise empfehlen. Das ist beispielsweise bei »in Frage stellen« der Fall (Duden/Wahrig-Empfehlung: »infrage stellen«). Bei anderen Schreibweisen wie aufwendig statt aufwändig, kennenlernen statt kennen lernen oder recht haben statt Recht haben empfiehlt auch der Duden längst wieder die althergebrachten Schreibweisen.
Brisanter ist, dass die SOK einige Änderungen, die die Rechtschreibreform geschaffen hat, offensiv ablehnt und dazu auffordert, diese zu ignorieren. So sind nach Meinung der SOK die Änderungen bei der e/ä-Schreibung willkürlich und kaum nachvollziehbar. Die SOK gibt daher den Rat, bei Wörtern wie behände, Gämse, Stängel, Gräuel und Wechte die abgeschafften alten Schreibweisen weiter zu benutzen: behende, Gemse, Stengel, Greuel, Wächte.
Auch ein besonderes Ärgernis der Rechtschreibreform, die Änderungen, welche sich nach falschen etymologischen Deutungen richten, empfiehlt die SOK schlichtweg zu ignorieren: Statt einbläuen, belämmert, Zierrat, Tollpatsch sollte man also wie früher einbleuen, belemmert, Zierat, Tolpatsch schreiben.
Hinzu kommen etliche Einzelentscheidungen, wie etwa, dass rau sein h zurückerhalten darf: So heißt es nach der SOK Rauhhaardackel, allerdings weiterhin Känguru. Näheres zu den Empfehlungen und Rückänderungen lässt sich auf der Website der SOK in einem Wegweiser nachlesen.
Man kann es nicht anders sagen: Oftmals wirken die Empfehlungen der SOK, als hätten sich eingeschworene Rechtschreibreformgegner zusammengesetzt und gemeinsam überlegt, was an den Neuerungen gerade noch so zu ertragen ist und was gar nicht geht. Die Frage muss erlaubt sein, ob es nicht einfacher gewesen wäre, gleich ohne Wenn und Aber eine Rückkehr zur alten Rechtschreibung zu propagieren – zumal die augenfälligsten Änderungen der Reform im Bereich der ss/ß-Schreibung für die Schweiz ohnehin keine Rolle spielen. Auf der anderen Seite liegt es auf der Hand, dass Empfehlungen, welche sich nur gegen ausgewählte Einzelbereiche der Reform richten, politisch und medial leichter durchsetzbar sind.
Grundsätzlich gibt die Arbeit der SOK – und auch der Entschluss von Reclam, ihren Empfehlungen zu folgen – auf jeden Fall ein wichtiges Signal dahingehend, dass die Rechtschreibreform noch nicht als abgeschlossen zu betrachten ist. Insbesondere die Unsicherheiten stiftenden Variantenschreibungen müssen eingedämmt werden. Gruselschreibungen wie »da hast du Recht« empfiehlt keiner mehr, und dennoch müssen sie im Duden zombiegleich von Auflage zu Auflage mitgeschleppt werden. Zu wünschen wäre eine abschließende Neuregelung mit dem Mut, den Irrtümern von 1996 endgültig eine Absage zu erteilen.
Nachtrag:
Da dies offenbar häufig missverstanden worden ist: Der Reclam-Verlag will zwar den SOK-Empfehlungen folgen, das heißt aber nicht, dass er sich komplett nach Schweizer Rechtschreibung richtet. Insbesondere wird natürlich die deutsche ß-Schreibung nach dem aktuell gültigen Regelwerk beibehalten.