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Gendern – nur Schlangenöl? Es ist vertrackt!
Autor:Ivan Panchenko ‹:====
Datum: So, 07.08.2022, 00:01
Antwort auf: Re: "und/ oder" oder "und/oder" Link (Rolf Landolt)

Rolf Landolt deutet einen interessanten Punkt an: In Fällen, wo der Ergänzungsstrich einer Auslassung in der gesprochenen Sprache entspricht, wird eine Wiederholung eines TEILS eingespart (Sonnenauf- und -untergang), in Lehrer/-innen wird das Motionssuffix an das gesamte Wort Lehrer gehängt. Ich halte das aber für akzeptabel, da dieses -innen eine Schreibkürzung ist (in der gesprochenen Sprache sagt man immer noch Lehrerinnen), wobei dieser Gebrauch vom Rat für deutsche Rechtschreibung nicht amtlich geregelt ist. Vergleichbar ist der Gebrauch in Wörterbüchern, so steht im Rechtschreibduden-Eintrag Oktopus «Plural -se und ...poden». Mit der Unterscheidung zwischen Bindestrich und Auslassungspunkten ergibt sich Lehrer/-innen und Doktoren/…rinnen, für den Alltagsgebrauch ist das jedoch zu kompliziert. Im Wörterbuch soll die Schreibweise für diejenigen, die es nicht schon wissen, gezeigt werden, soll dagegen einfach nur die movierte Form verkürzt geschrieben werden, ohne etwas über die Sprache zu erklären, so sollte reichen: Lehrer/-innen, Doktoren/-innen. Ungewöhnlich wäre die Verwendung eines Bindestrichs mit Umlautpunkten: Arzt/⸚in. Na ja, das Wort Ärztin ist kurz genug. (Wer es noch exotischer haben möchte: Wie wäre es mit der Einführung von Auslassungspunkten mit Umlautpunkten?)

Übrigens halte ich Doppelnennungen unter Umständen für sinnvoll. Auch wenn Schüler SEMANTISCH geschlechtsneutral ist, gibt es die Gebrauchskonvention, das geschlechtsspezifische Femininum Schülerin vorzuziehen, wenn es um eine bestimmte weibliche Person geht, während es kein ausschließlich für männliche Wesen reserviertes Pendant gibt (Schülerich?). Nun nehmen wir an, in einem englischsprachigen Bericht ist von einem pupil die Rede, der anonym und dessen Geschlecht dem Leser unklar bleibt. Möchte jemand in deutscher Sprache etwas über diesen Schüler schreiben, so bietet sich die ausschließliche Verwendung des generischen Maskulinums an, wenn er das Geschlecht nicht kennt. Bei anderen, die nicht wissen, dass dem Verfasser das Geschlecht unbekannt ist, kann dann aber der Eindruck entstehen, dass der Schüler männlich ist. Um dem Missverständnis vorzubeugen, könnte der Verfasser schreiben: «ein Schüler (oder eine Schülerin, ich kenne das Geschlecht nicht)». Tobias Kurfer in der Berliner Zeitung:

Erschwerend kommt hinzu, dass bisweilen nur der Singular („ein Lehrer“) untersucht wurde. […] Tests der Art „Wer ist Ihr Lieblingsmusiker?“ (Stahlberg, Sczesny, 2000, 2001) oder „Male einen Arzt“ (Durau, 2021) sind daher irreführend. Denn auch sie legen eine männliche Lesart nahe.

Es ist aber kein pragmatischer Fehler, «Wer ist Ihr Lieblingsmusiker?» zu fragen, wenn das Geschlecht nicht feststeht. Wir haben es hier mit speziellen Fällen zu tun, können aber festhalten: Es GIBT realistische Fälle mit male bias, in denen das Geschlecht auch weiblich sein kann. Wie sieht es im Plural aus? Ist im Maskulinum von bestimmten Lehrern die Rede, liegt es nahe, dass mindestens eine männliche Person dabei ist, hingegen sagt uns das Maskulinum nicht, dass eine weibliche Person dabei ist, in dieser Hinsicht also wieder ein male bias. (Der Effekt ist bei Cheerleader weniger stark ausgeprägt, da hier auf die movierte Form oft verzichtet wird, manchmal kommt aber Cheerleaderinnen vor, man sagt ja auch Trainerin und Managerin. Prof. kann auch Professorin abkürzen, andererseits kommt Prof.in vor.)

In einigen Fällen ist das Vorhandensein von Frauen allerdings sowieso klar («Deutschland hat 83 Millionen Einwohner») und bei Allaussagen wie «Jeder Interessierte ist eingeladen» würde die weibliche Form nichts hinzufügen. Ein Grund, trotzdem auch die weibliche Form zu verwenden, könnte sein, im Sinne von Diversity extra zu betonen, dass auch Frauen möglich sind, und dafür zu sorgen, dass Leute sich direkter angesprochen fühlen (wobei das nichts ist, was ich für universitäre Arbeiten verbindlich vorschreiben würde, vor allem sind auch andere Diversity-Maßnahmen als durchgängiges Gendern möglich, etwa Fotos – kann den Leuten selbst überlassen werden, finde ich, und in Gesetzestexten scheint mir ein Verzicht auf Aufblähung durch weibliche Formen angemessen). Man vergleiche das mit Veganer und Vegetarier – Veganer sind auch Vegetarier, aber wenn eine Tierschutzorganisation für Veganismus werben will, ist es kein Wunder, dass das extra erwähnt wird. (Jetzt noch die weiblichen Formen dazu, dann sind wir bei vier Nennungen. 🥴) Ansonsten bleibt zu Bildern im Kopf zu sagen: Assoziieren kann man viel, wirklich relevant ist das nicht immer, siehe zu psychologischen Studien auch Wolfram Metz. (Oder soll etwa auch das spanische Adjektiv negro ‘schwarz’ abgeschafft werden, weil es ähnlich klingt wie unser N-Wort, oder das deutsche Verb kriegen, weil es mit Krieg in Verbindung gebracht werden kann? Sogar von Atheisten hört man Gott sei Dank, dabei sind Wörter wie Präsident bereits im wörtlichen Sinne geschlechtsneutral.)

Die Geschlechtsneutralität der lexikalischen Bedeutung wird manchmal in Abrede gestellt: Die generische Verwendung des Maskulinums werde auf duden.de auch nicht abgestritten, sie sei aber „nicht Bestandteil der lexikografischen Kategorie Bedeutung“. Ich sehe das anders. Es ist nicht üblich, «Es waren nur drei Besucher da» zu sagen, wenn mehr als drei Besucher da waren, aber nur drei männliche, der geschlechtsneutrale Gebrauch ist hingegen möglich. Und dennoch soll die eigentliche lexikalische Bedeutung geschlechtsspezifisch sein? Wieso wird dann nicht auch Vater geschlechtsabstrahierend gebraucht, statt sich der umständlichen Konstruktion Elternteil oder der außerhalb des fachlichen Gebrauchs ungewöhnlichen Rückbildung Elter zu bedienen? Außerdem kann die Movierung Kätzin verwendet werden, hier steht die Derivationsbasis sicher nicht ausschließlich für männliche Katzen. Korrekt erfasst hat es Thomas Becker (2008, Hervorhebung von mir):

Im englischen Sprachraum und in der DDR wurden die Implikaturen aufgrund der Vermeidung movierter Formen eher schwächer, im westdeutschen Sprachraum stärker, Frauen fühlen sich durch nicht-movierte Personenbezeichnungen immer weniger angesprochen. [...] Das Maskulinum ist nicht mehr das, was es einmal war (Pusch 1999: 75), weil die Implikatur deutlich stärker ist als früher. Nur dass es „seine Unmarkiertheit verloren“ hat (ibid.), kann man noch nicht behaupten.

Die Wortbedeutung nicht-movierter Personenbezeichnungen ist somit die „generische“, worunter hier die geschlechtsneutrale gemeint ist. Die abgeleitete „Bedeutung“ ‚männliche Person‘ ergibt sich durch eine konversationelle Implikatur aus der signifikanten Nicht-Verwendung der movierten Form¹²; diese „Bedeutung“ ist somit eine pragmatische Gebrauchsbedeutung, die von der Wortsemantik strikt zu scheiden ist.

Für manche mag es nach einer guten Idee klingen, für eine Bedeutungsverengung der maskulinen Form einzutreten und auf diese Weise Symmetrie herzustellen, damit möglichst wenige das Gendern dort, wo es sinnvoll ist, leichtfertig unterlassen, so ähnlich wie Mann heute als geschlechtsspezifisch verstanden wird (die geschlechtsneutrale Bedeutung hat sich bspw. in jemand erhalten, vgl. auch Frauenmannschaft und Landsmännin). Damit würden aber Ableitungen wie Bäckerei so aussehen, als seien sie von einem geschlechtsspezifischen Wort abgeleitet (wie Eva aus einer Rippe Adams, so Bäckerin aus sexusmännlichem Bäcker??). Anstelle von Mann haben wir Mensch als geschlechtsneutrale Alternative (was eigentlich stammverwandt ist – *Männsch –, aber immerhin fällt das nicht so auf), man und jemand werden nicht mit zwei n geschrieben und sind keine synchron nachvollziehbaren Ableitungen, in englisch woman wird man anders ausgesprochen und statt Frauenmannschaft, Landsmännin und englisch chairman können Frauenteam, Landsfrau und chairperson verwendet werden. Wäre die Bedeutung von Arzt geschlechtsspezifisch, müsste auch ein «geschlechtergerechter» Ersatz für Ärztin und ärztlich her. Wenn der Hindu nicht geschlechtsneutral wäre, so würde das Geschlechtsspezifische ja wohl nicht im bestimmten Artikel, sondern im Lexem stecken, sodass auch die Hindus geschlechtsspezifisch wäre: Entweder handelt es sich um die pluralische Entsprechung von der Hindu (also gemäß der vorgeschlagenen Bedeutung nur männlichen Geschlechts) oder um die von die Hindu (nur weiblichen Geschlechts). Somit: die Hindus und Hindus, et al. et al. (et aliae et alii). Und wie soll das bitte mit Gendersternchen aussehen? Manche verwenden lesefreundlich als «geschlechtergerechte» Alternative zu leserfreundlich, soll aus Russland also auch Rusland werden? Schließlich wird Kiewer Rus mit nur einem s geschrieben, in Russland steckt der Stamm des Maskulinums Russe (!), wo s-Verdopplung eintritt. Und was machen wir mit Frankreich (→ Fränkinnen und Franken) etc.?

Ein Vergleich: Der zoologische Terminus Männchen ist im Prinzip auf alle männlichen Tiere anwendbar und erfasst somit auch männliche Menschen. Wir würden zwar den Satz «Der Mann spielt mit dem Männchen» nicht umformulieren wollen zu «Die Männchen spielen miteinander», nur bedeutet das doch nicht, dass auch in so allgemeinen Sätzen wie «Männchen und Weibchen der Säugetiere unterscheiden sich in den Fortpflanzungsorganen» Menschen explizit miterwähnt werden sollen, damit sie nicht «unsichtbar gemacht» werden, so in der Art: «Männliche Menschen und Männchen einerseits und weibliche Menschen und Weibchen andererseits unterscheiden sich ...» Ebenso klingt «Dieses schwierige Verhältnis zwischen Rheinländerinnen und Rheinländern auf der einen Seite und Westfalinnen und Westfalen auf der anderen Seite – kannst du uns Berlinerinnen und Berlinern das irgendwie erklären?» (Gregor Gysi) mit der Umständlichkeit gekünstelt.

Das Gendern treibt auch seltsame Blüten. Kaufkraft für Büromanagement – braucht das Büromanagement mehr Geldwert oder wird hier nach einer Person (→ Kaufmann/-frau) gesucht? Auf Scribbr findet sich ein Geschäft inhabende Person als Alternative zu Patron. Das Verb inhaben wurde im Frühneuhochdeutschen verwendet, heutzutage sagt man jedoch (trotz Inhaber) innehaben, zu erwarten wäre also ein Geschäft innehabende Person, dagegen bietet sich inhabend bei Verwendung ohne Objekt an, zum Beispiel inhabender Geschäftsführer. In Österreich gibt es Verordnungen mit Kurztiteln wie Kunststoffformgebung-Ausbildungsordnung und Maler/in und Beschichtungstechniker/in-Ausbildungsordnung, angebracht wäre hier eigentlich ein Gedankenstrich (mit Abständen wie bei Sanitär- und Klimatechnik - Ausbildungsordnung), bei einem Kompositum wäre ein Fugenelement zu erwarten. Mit Ergänzungsstrich beim Motionssuffix und einer Anbindung der ersten Berufsbezeichnung landen wir bei Maler-/-innen- und Beschichtungstechniker-/-innen-Ausbildungsordnung.

Die Bezeichnungen der Genera (Maskulinum/Femininum/Neutrum) können in einem recht eingeschränkten Rahmen nachvollzogen werden und die Sache lässt sich dort in etwa so präzisieren: Das Neutrum ist am allgemeinsten (vgl. Du bist etwas Besonderes), das Maskulinum kann speziell für Subjekte herhalten (der Angestellte), das Femininum speziell für weibliche Subjekte (die Angestellte). (Bitte nicht als allgemeine Erklärung des Genussystems ernst nehmen, es geht hier nur um die Bezeichnungen.) Die Genusbezeichnungen kommen zustande, indem das Spezifischere ausgenommen wird: Wer nicht weiblich ist, ist (ausgehend von der binären Einteilung) männlich, und was weder männlich noch weiblich ist, ist eben ne-utrum, keins von beidem. Die Reihenfolge der/die/das (statt nach aufsteigender Spezifizität oder alphabetisch das/der/die) lässt sich in nichtsexistischer Hinsicht damit verteidigen, dass Subjekten ein höherer Status zugestanden wird (daher der und die vor das), während Frauen gleichberechtigt sind mit Männern und daher das maskuline Genus, welches allgemeiner ist als das feminine, zuerst genannt wird. Für Vornamen von Personen mit nichtbinärer Geschlechtsidentität haben wir theoretisch das Maskulinum, problematisch daran ist, dass das Nichtbinäre bei Personennamen ausgerechnet mit dem Männlichen und nicht mit dem Weiblichen in eine Schublade gepackt wird. Ausweichmöglichkeit: statt «Alex sagte, er habe keine Zeit» einfach «Alex hat laut eigener Aussage keine Zeit» sagen. Im Englischen gibt es das sogenannte singular they, welches grammatikalisch völlig einwandfrei ist, wobei ich mit der Bezeichnung singular nicht einverstanden bin, denn es ist immer noch eine Pluralform (so wie Person feminin, aber nicht auf weibliche Personen beschränkt ist). Ich habe Richard Stallman etwas dazu geschrieben:

Consider this: “The set of even prime numbers is {2} since THEY are all equal to two.” In this case, the plural form “numbers” is used to capture any such number, however many there are, and “they” refers back to all the even prime numbers, even though, as it turns out, there is just one.

We prefer the singular when talking about a specific male or female person because standard English already provides us with the number-specific pronouns “he” and “she”, but when we want a third-person subject personal pronoun that is neither “he”, “she” nor “it” (e.g., in a general statement such as “Every patient should be told at the outset how much they will be required to pay”), there is no competing singular in standard English and so it makes sense to resort to “they”, which might be paraphrased with “all the people that are this person” (even though this ultimately means that we are referring to just one person!).

In order to use “they”, it is not required to refer to the things with another plural form. Consider this example: “My family stops by regularly, and they always bring pizzas.” Even though “family” is singular, it is understood that “they” refers to all the people in the group.

Dagegen halte ich alumnx (statt alumnus/alumna) für keine elegante Lösung, stattdessen geht alumn. Das Gendersternchen im Deutschen gefällt mir auch nicht (Zweckentfremdung eines Sonderzeichens für etwas sehr Spezielles, Fehlen eines Ergänzungsstrichs; Analyse des Gendersternchens).

FAZIT: Reden wir einfach alle Englisch. 🙄

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Beiträge zu diesem Thema

"und/ oder" oder "und/oder"
nicmad -- Samstag, 16.6.2007, 10:46
Re: "und/ oder" oder "und/oder"
Joerg -- Samstag, 16.6.2007, 13:40
Re: "und/ oder" oder "und/oder"
nicmad -- Samstag, 16.6.2007, 13:57
Re: "und/ oder" oder "und/oder"
Julian von Heyl -- Samstag, 16.6.2007, 14:11
Re: "und/ oder" oder "und/oder" Link
Christian Stang -- Samstag, 16.6.2007, 15:56
Re: "und/ oder" oder "und/oder"
andrea -- Donnerstag, 21.6.2007, 16:07
Re: "und/ oder" oder "und/oder" Link
Rolf Landolt -- Donnerstag, 21.6.2007, 16:25
Re: "und/ oder" oder "und/oder"
Michael -- Donnerstag, 21.6.2007, 17:20
Studierendenvertretende
Julian von Heyl -- Donnerstag, 21.6.2007, 17:49
Re: Studierendenvertretende
andrea -- Donnerstag, 21.6.2007, 19:26
Re: "und/ oder" oder "und/oder"
andrea -- Donnerstag, 21.6.2007, 19:48
Re: "und/ oder" oder "und/oder"
andrea -- Donnerstag, 21.6.2007, 21:13
Gendern – nur Schlangenöl? Es ist vertrackt!
Ivan Panchenko ‹:==== -- Sonntag, 7.8.2022, 00:01
Re: Gendern – nur Schlangenöl? Es ist vertrackt!
Ivan Panchenko ‹:==== -- Dienstag, 9.8.2022, 13:20
10.000ster Beitrag !!!!
Julian von Heyl -- Donnerstag, 21.6.2007, 23:23
Re: 10.000ster Beitrag !!!!
andrea -- Freitag, 22.6.2007, 14:05
Re: "und/ oder" oder "und/oder" Link
Christian Stang -- Samstag, 16.6.2007, 15:50
Re: "und/ oder" oder "und/oder"
daMasta -- Donnerstag, 24.3.2011, 14:02
Re: "und/ oder" oder "und/oder"
Julian von Heyl -- Donnerstag, 24.3.2011, 14:17
Re: "und/ oder" oder "und/oder"
Chris -- Donnerstag, 23.9.2021, 23:42